Wir saßen in einem Boot. Unsere Blicke trafen sich, tauchten zurück in die Tiefen graugrünen Wassers, wechselten von Ufer zu Ufer, wo Schildkröten träge aus ihrem Mittagsschlaf erwachten. Nur drei Schritte von mir entfernt saß „Sie!“. Leicht zurückgelehnt, verträumt und in sich versunken, die Augen halb geschlossen. Um uns Touristen, ein wenig müde plaudernd, sich räkelnd auf dem kleinen, hölzernen Oberdeck, in sengender Sonne, aus der es kein Entrinnen gab.
Unsere Blicke fanden sich erneut für Bruchteil von Sekunden, gingen leicht irritiert hin und zurück, als suchten sie nach Zielen ähnlichen Zaubers. Fasziniert von der Ausstrahlung und Sanftheit dieser großen, fast noch kindlichen Augen, hielt ich wie gebannt nach ihnen Ausschau.
Ein weißes Kopftuch bedeckte züchtig und akkurat gefaltet ihr schweres langes Haar. Nur eine kleine, winzige Locke stahl sich frech und widerspenstig aus dieser Umklammerung, fröhlich tanzend im leichten Fahrtwind des Bootes. Noch einmal bemerkte ich im Vorüberschweifen ihren raschen, wie verstohlen wirkenden Augenaufschlag. Dieses Mal jedoch begleitet von einem zaghaften Lächeln, welches mir zugleich ihre jugendhaften Züge verriet. Zweimal, dreimal vielleicht wiederholte sich die Begegnung unserer Augenpaare, bis ich es schließlich wagte, ihre Freundlichkeit auf gleiche Weise zu erwidern.
Doch dann senkten sich unverhofft, langsam und schwer wie ein samtener Vorhang ihre Lider und verbargen mir den Zugang in die schier unergründlichen Tiefen eines Ozeans. Jäh wurde der beginnende, lautlose Austausch zweier Welten und Kulturen, durch eine helle, schrille Glocke unterbrochen.
Das Schiff ging vor Anker. —
Zwei dunkle Augen, umrahmt von seidigen schwarzen Wimpern, entfernten sich in entgegengesetzter Richtung, verloren sich rasch in der bunten Menge schwatzender Touristen. Eine kleine zierliche Gestalt entschwand zwischen Olivenhainen und blühendem Oleander. Doch dann, ganz plötzlich, sah ich sie noch einmal, zurückschauend, nach mir suchend, in der Mitte ihrer Begleiter, die ihr sehr vertraut zu sein schienen. Von ihnen bewacht und behütet, einer zärtlichen Entführung gleich, entzog man sie meinen Blicken wie eine der schönsten und edelsten Kostbarkeiten des vorderen Orients.
Meine Seele nahm Abschied von der ihren. Leb wohl kleine Aisha, … oder wie Du auch heißen magst! – Ein einmaliges Schauspiel der Natur, Gewalten von Wassermassen, zischend, aufbäumend und um Freiheit ringend, riefen meine Erinnerungen wach und spülten sie widerwillig mit sich fort.
Durchdringende, ermahnende Stimmen rissen mich aus meinen Träumen in die Gegenwart zurück, erbarmungslos. Das letzte Schiff lief aus, zwingend zur Eile und endgültigen Rückkehr aus einem verlorenen Paradies. Gedankenversunken erreichte ich gerade noch rechtzeitig den schmalen Weg zur Landebrücke.
Doch plötzlich, wie von einer magischen Hand gezogen, wechselte ich völlig grundlos die Seite des holperigen, dicht bewachsenen Zubringerpfades. Wie im Traum nahm ich ein unscheinbares Etwas wahr, in grau gehüllt bis zu den Fesseln. Ihre kleinen Füße verloren sich in den viel zu großen verstaubten dunklen Sandalen. Ein leuchtend weißes Tuch, sich langsam lösend, befreiend aus der kleinen dunkelhäutigen Gruppe, die dem Boot zueilte, bewegte sich in meine Richtung. Sicheren Schrittes und voll anmutigem Stolz kam sie direkt auf mich zu. Gebannt blieb ich stehen, verzaubert von ihrem nahenden fast bezwingenden Lächeln auf ihren schmalen, blassen Lippen. Wortlos legte sie ihre zerbrechlichen dünnen Ärmchen um meine Schultern, schmiegte fest und doch sanft zugleich ihren kleinen verschleierten Kopf an meine Brust. –
Sie schaute zu mir hinauf mit geradem forschendem Blick in dem dennoch eine unendliche Ruhe weilte, trotz gewisser Zartheit und verborgener Verletzlichkeit. Aus ihren schwarzbraunen Augen schien sie in allen Sprachen zu sprechen, zu fragen, suchend nach Erwiderung in den meinen, so daß mir kein Ausweichen mehr möglich war. Ich wollte mich lösen aus dieser Verunsicherung und Betroffenheit die ihre unverhoffte Nähe und Zuneigung in mir hervorriefen. Aber sie hielt mich umklammert, fordernd wie ein verängstigtes Kind, was längst verlorenes endlich wiedergefunden hatte und nie mehr hergeben wollte. Um keinen Preis der Welt!
Wie erstarrt schauten ihre Begleiter dieser Szene fassungslos zu. Trotz tiefster Anrührung und inneren Bewegung, nahm ich eine starke von ihr ausgehende unerklärliche Kraft und Freude in mich auf. Ein neuer Lebensquell schien in mir zu erwachen und erfüllte mich mit einem Urvertrauen und einer inneren Zuversicht, die letztendlich die Überwindung aller Ängste und alles Fremdartigen möglich macht. Aus ihren jungen Augen sprachen Gedanken und Empfindungen wie alte Weisheiten, als wollten sie die ganze Welt umfassen, trösten und vereinen, getragen von einer großen Sehnsucht nach Freiheit und Frieden. Wohlige Wärme, Sicherheit und Gelassenheit strömten spürbar auf mich über. Gefühle uneingeschränkter Liebe und grenzenlosem Vertrauen vereinigten sich zu Augenblicken vollkommenen Glückes.
Im Wissen um die zunehmenden „Kälteeinbrüche“ westlicher Hemisphären, genoß ich diese Momente unwirklichen Daseins in vollen Zügen. Sog jede Empfindung, jede Entdeckung einzeln in mich auf als brauchte ich Reserven über Jahre hinaus. So verwandelte sich meine Abwehr in dankbare Annahme, tiefster Verbundenheit und inniger Zuwendung.
Im Gleichklang dieses intensiven Fühlens und Erkennens um eine tatsächlich existierende Seelenverwandtschaft, die weder Grenzen, Hautfarben, Kulturen noch Religionen kennt, nahte der Augenblick, in dem wir beide noch zögernd und widerstrebend voneinander Abschied nehmen mußten. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit in der jeder für immer bis ans Ende verweilen wollte. —
Leichte Wehmut überzog wie ein flüchtiger Schatten das kleine, bisher strahlende Gesicht. Ihre glänzenden Augen schienen sich zu wehren gegen den Schleier, der sie ungewollt zu trüben begann, bis er sich in winzigen Perlen sammelte, die auf ihren rosigen Wangen versiegten.
Ein wenig unentschlossen wirkte sie noch, als sie sich nun mit einem seltsamen, geheimnisvollen Lächeln wieder ihrer Familie zuwand. Wie eine verlorene Tochter über lange Zeit empfing man sie erleichtert und beglückt in dem wartenden Kreis, der sie nun fröhlich und dankbar umschloß.
Ihre zarte winkende Hand flatterte, hüpfte wie ein junger Vogel, vor dem Rot der untergehenden Abendsonne davon und verlor sich hinter der nächsten Biegung. So sah ich sie endgültig zum allerletzten Male.
Niemals, nein niemals werde ich „Sie“ vergessen! Mein Dank für diese Begegnung an einem ganz gewöhnlichen Urlaubstag ist unermeßlich.
Manavgat, Türkei, im Mai 1995